VELOSZENE SCHWEIZ 10/98

"Es fehlt an Solidarität"

Bei der Tour de France belegte Roland Meier Rang sieben im Schlussklassement und überraschte damit Fans und Öffentlichkeit. Jetzt will der Cofidis-Profi mehr, und er ist sich sicher, dass er es kann.

VELO: Roland Meier, was bedeutet Ihnen Anerkennung?

MEIER: Sehr viel. Für mich ist Anerkennung vor allem innerhalb der Mannschaft wichtig. Das habe ich vor zwei Jahren erlebt, als ich vom damaligen Sportlichen Leiter bei TVM gar keine Anerkennung erfahren hatte. Anerkennung ist ein Zeichen von gegenseitigem Vertrauen, und darauf kann man aufbauen.

VELO: Welche Anerkennung haben Sie nach Ihrem Tour-Exploit erlebt?

MEIER: Eine überraschend grosse, von der Mannschaft, von den Leuten an der Strasse, auch von Personen, die meine Karriere genau verfolgt haben. Es gibt solche, die immer an mich geglaubt haben, auf der anderen Seite hörte ich während langer Zeit negative Kommentare, und genau diese Leute sind nun auch hinter mir gestanden. Das ist ein gutes Gefühl.

VELO: Ein Gefühl, dass Sie zuvor kaum jemals gekannt haben.

MEIER: Doch, zwischendurch hatte ich schon den einen oder anderen Erfolg. Aber nicht im grossen Stil. Und wer bei einem solch wichtigen Rennen vorne ist, dann werden auch Leute auf einen aufmerksam, die sich sonst nicht für Radsport interessieren. An diesen Reaktionen wird einem auch wieder bewusst, welche Bedeutung die Tour de France aufweist.

VELO: Sie sind ein klassischer Joker-Fahrer – mit vielen Freiheiten, aber mit wenig Siegeschancen.

MEIER: Ja, ich hatte keine konkreten Aufgaben zu erfüllen. Ich sprach mit immer mit Francesco Casagrande, mit meinem Leader, ab. Ich sollte immer möglichst lange bei ihm bleiben – und wenn nötig Attacken lancieren, um andere Mannschaften in die Defensive zu drängen.

VELO: Trotzdem klassierten Sie sich in der Tour de France als elfter Schweizer überhaupt unter den ersten Zehn, zugleich bester Schweizer. Eine ehrenvolle Auszeichnung?

MEIER: Nicht unbedingt. Bester Schweizer zu sein bedeutet mir nichts. Denn auch wenn drei oder vier meiner Landsleute vor mir gewesen wären – meine Leistung als Siebter wäre trotzdem dieselbe geblieben.

VELO: Fand Ihre Leistung auch in den schweizerischen Medien die nötige Anerkennung?

MEIER: Jein. Sonst standen andere Fahrer im Rampenlicht. Jetzt, wo die Reihe an mir gewesen wäre, kam dummerweise die Dopingaffäre dazu. (Lacht.) Offenbar habe ich die falsche Tour erwischt. Da wurde natürlich vor allem darüber geschrieben.

VELO: Sie standen Ende 1997 knapp vor der Verpflichtung bei Festina. Glücklich, dass Sie schliesslich statt zu Festina zu Cofidis wechseln konnten?

MEIER: Ich denke, es gibt einen Lebensweg, der vorgegeben wird. Und wenn man an Kreuzungen anlangt, weiss man nicht, wohin man sich wenden soll. Plötzlich erhält man von aussen die Eingebung, welcher Weg der richtige ist – oder der falsche. Damals beispielsweise, als ich 1993 bei TVM einen Vertrag unterschrieben hatte. Schon damals hätte ich zu Festina gehen können, doch damals kursierten die Gerüchte über die ausbleibenden Lohnzahlungen. Wenn ich dieses Mal wieder auf den falschen Weg geleitet worden wäre, stände ich nun eben an der Stelle von Armin Meier (Rolli Meier's ehemaliger Teamkollege bei PMU, AdR).

VELO: Wie haben Sie es erlebt – die Enthüllungen, die Geständnisse, die Streiks?

MEIER: Nun, vor allem die Streiks waren von Fahrerseite her sehr schlecht organisiert worden. Es fehlte eine Absprache im Feld; die Hälfte, vielleicht gar drei Viertel des Feldes erfuhr jeweils erst kurz vor dem Start davon. Dazu kam Bjarne Riis, der sich als Sprecher zwischen der Tour-Direktion und dem Feld aufgespielt hatte, obwohl er nie dazu ernannt worden war. Diese Zustände haben mir schon zu denken gegeben.

VELO: Fehlt im Profi-Peloton die Solidarität?

MEIER: Gewissermassen. Seit einigen Jahren fehlen Persönlichkeiten im Feld, die für Ruhe und Ordnung sorgen – wie Indurain zum Beispiel oder Rominger. Nun versuchen verschiedene Athleten den Chef zu markieren, die das Profil dazu nicht haben. Dass die Solidarität bei uns nicht gut ist, hatte man bereits auf der Rundfahrt Tirreno-Adriatico gesehen. Hundert Fahrer protestierten gegen die gefährliche Strecke – und wurden ausgeschlossen, weil sie nach Kontrollschluss ins Ziel gekommen sind. Bloss, weil andere Fahrer diese Situation für sich ausgenutzt haben.

VELO: Sehen Sie persönlich einen Ausweg aus dem Doping-Sumpf?

MEIER: Machen wir uns doch nichts vor: Auf diesem hohen Niveau kann Doping nicht eliminiert werden. Es wird immer wieder Mittelchen geben, die man noch nicht nachweisen kann. Ich mache mir da keine Illusionen. Ich selber habe nichts zu verbergen – und deshalb keine Angst, falls ich mal kontrolliert werden sollte. Ich stehe dazu, dass wir jeden Abend erhielten wir Infusionen mit Zucker und Vitaminen. Aber ohne diese ist es unmöglich, sich von diesen Strapazen zu erholen.

VELO: A propos Strapazen: hat's nach der Tour in Ihrer Lohnkasse wenigstens kräftig geklingelt?

MEIER: Ich weiss es noch nicht genau. Aber nach unseren Schätzungen werden pro Fahrer rund 50'000 Franken Prämien und Preisgeld abfallen, vor Abzug der Quellensteuer, die rund 20 Prozent beträgt. Für mich ist es der schlichte Wahnsinn, dieser Betrag – fast wie Weihnachten. Wenn man bedenkt, wie wenig ich vor zwei Jahren noch verdient hatte.

VELO: Konnten Sie sich in jener Phase überhaupt vorstellen, dass man als Profi soviel verdienen kann?

MEIER: Nein, während meiner ganzen Karriere musste ich ums finanzielle Überleben kämpfen. Nie habe ich einen Gedanken dran verschwendet, einmal in einer grossen Equipe zu fahren, die Tour unter den ersten Zehn zu beenden. Und dass man neben dem Salär eine solche Summe an Preisgeld nach Hause nehmen kann, war schlicht unvorstellbar. Doch selbst 50'000 Franken sind wenig, wenn man bedenkt, dass 1997 jeder Telekom-Fahrer den dreifachen Betrag an Prämien nach Hause genommen hatten.

VELO: Was hat sich während der Tour de France für Sie verändert?

MEIER: Ich weiss nun, dass ich bei einem grossen Etappenrennen tatsächlich nach ganz vorne fahren kann. Vergangenes Jahr hatte mir Jacques Michaud, der Sportliche Leiter beim Post Swiss Team, prophezeit, ich könne an der Tour unter die ersten Zehn fahren. Er war der erste, der mir solches gesagt hatte, und das gab mir einen ungeheuren Rückhalt. Zuvor hatte das Selbstvertrauen in mich selber schon ein bisschen gefehlt.

VELO: Welche Bedeutung nimmt die Zeit beim Post Swiss Team in Ihrer Karriere ein?

MEIER: Eine ganz grosse. Denn ohne diese Formation wäre ich jetzt nicht an dieser Position.

VELO: Welches sind die Unterschiede nun zwischen Cofidis und dem Post Swiss Team?

MEIER: Bei Cofidis ist das Budget viel grösser, wird noch eine Spur professioneller gearbeitet, die Betreuer haben mehr Erfahrung. Bei der Post hingegen war Jacques Michaud der einzige Profi, der zuvor schon in diesem Metier gearbeitet hatte. Dennoch finde ich es gut, dass die Post sich weiterhin darauf beschränkt, Nachwuchsfahrer an die Spitze zu bringen.

VELO: Bleiben Sie 1999 bei Cofidis?

MEIER: Ja, ich sehe derzeit überhaupt keinen Grund zu wechseln. Man sollte nicht aus einem Team ausscheiden, wenn noch alles stimmt. Das Beispiel Pascal Richard zeigt, was passieren kann. Wobei Richard ohnehin ein etwas spezieller Typ ist – so wie ich auch.

VELO: Wie meinen Sie das?

MEIER: Ich habe manchmal einen Dickschädel, ab und zu bin ich ein Eigenbrötler. Aber ich denke, dass man innerhalb des Radzirkus auf eine Weise speziell sein muss. Wobei: ich habe mich sehr verbessert.

VELO: Gab es Schlüsselerlebnisse?

MEIER: Ja, die Tour. Da habe ich erstmals gelernt, an mich selber zu glauben. Früher war ich am Limit gefahren und dachte, dass die anderen noch nicht so leiden müssen wie ich. Im Nachhinein merke ich, dass oft nur ein Bruchteil mehr an Durchhaltewillen notwendig gewesen wäre. Dazu kommt, dass mein Fettgehalt nur noch vier Prozent beträgt – ein so tiefer Wert wie noch nie zuvor.

VELO: Wie erreichten Sie diese Abnahme?

MEIER: Ich habe sehr seriös gelebt. Früher habe ich oft gesündigt. Zum Kaffee kam noch ein Schoko-Täfelchen dazu. Oder ich ass Eis. Ich sagte meiner Freundin: "Komm, Du musst mir helfen." Ich kann nicht sagen, dass ich heute keine Schokolade esse. Meine Freundin muss die Süssigkeiten vor mir verstecken. Ich habe auch damit aufgehört, drei Teller Spaghetti zu essen – nur weil am nächsten Tag ein Wettkampf stattfindet. Wenn ich im Sommer zu Festen eingeladen werde, muss ich oft selber Fleisch mitnehmen, da die meisten Bekannten nur Wurstwaren oder Schweinefleisch bräteln. Im Winter leiste ich mir natürlich ab und zu schon was. Dann gehe ich zum Beispiel ins Migros-Restaurant und esse Pommes-Frites und Bratwurst an Zwiebelsauce - übrigens eines meiner Lieblingsgerichte.

Interview von Pascal Meisser und Martin Platter

Steckbrief Roland Müller

Spitzname: Rolli
Geboren am: 22.11.1967
Zivilstand: verheiratet mit Claudia
Profi seit: 1993
Teams: TVM (1993-95), PMU Romand (1996), Post Swiss Team (1997), Cofidis (seit 1998)

Erfolge:
1995 2 Siege (Zeitfahren-Schweizermeister, Oberwil BL)
1996 3 Siege (Etappe bei Wien-Gresten-Wien, Zeitfahren und Gesamtsieg an der Ostschweizer Rundfahrt
1997 2 Siege (GP Winterthur, 1. Etappe GP Tell)

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