Rechenexempel
Profi Alexandre Moos war als grosser Favorit zur Berg-Schweizermeisterschaft in Bowil gestartet. Doch schliesslich triumphierte ein Amateur: Stefan Richner stürzte den Saeco-Mann vom Meisterthron.
Das Geschehen vom Vorjahr sollte sich nicht wiederholen. Das sagte sich Stefan Richner, ein 24jähriger Elite-Amateur aus der Kästle-Radio Argovia-Mannschaft, nach dem ersten Lauf, einem Massenstartrennen über 15,7 km. Zweiter war er geworden, nur knapp hinter dem Walliser Profi Alexandre Moos, dem Mannschaftshelfer von Mario Cippollini. Alle übrigen 116 Konkurrenten lagen bereits 20 und mehr Sekunden zurück. Und Richner begann sich bereits, seine Chancen auf den Sieg auszurechnen. Wie im Vorjahr eben. Damals war er im ersten Lauf ebenfalls Zweiter geworden, ebenfalls knapp hinter einem Berufsfahrer. Dieser hiess Niki Aebersold. Einen Spitzenplatz vergab Richner aber im abschliessenden Zeitfahren. Nicht etwa, weil er körperlich unterlegen gewesen wäre. Nein, er verpasste schlicht seinen Start – und fuhr mit einigen Minuten Handicap los. "Ich war zu wenig nervös", erkannte Richner im nachhinein. Dieses Jahr zählte der ruppige Wettkampf zwischen Bowil BE und Chuderhüsi als Meisterschaftsrennen – und an Nervosität fehlte es beim wackeren Aargauer nicht. Zeit zur Erholung blieb ihm genug, denn zwischendurch ermittelten die Junioren den schnellsten Kletterer in einem einzigen Lauf: der Thurgauer Michael Albasini schlug im Sprint seine beiden Begleiter Fabian Cancellara und Xavier Pache.
Couragiert nahm Richner das 5,5-km-Zeitfahren in Angriff und fuhr scheinbar locker die Serpentinen hinauf. Profi Moos blieb ob dieser unglaublichen Leichtigkeit nur das Staunen. Bei Streckenhälfte fragte Moos' Betreuer aus Genf, um wieviele Sekunden dessen Vorsprung bereits zugenommen habe. Dass er zu diesem Zeitpunkt bereits 15 Sekunden auf den neuen Spitzenreiter verloren hatte, wollte niemand so recht glauben. Doch Richner fuhr weiterhin konstant, erlitt nicht den erwarteten Einbruch und fuhr als neuer (inoffizieller) Meister im Ziel ein – der fünfte und bisher wichtigste Erfolg seiner noch jungen Karriere. Sein Teamkollege Hugo Jenni vervollständigte den Mannschaftstriumph mit Platz drei.
Erst vor drei Jahren löste Richner seine erste Lizenz, obwohl er aus einer Radler-Familie stammt. Sowohl sein Vater Josef als auch sein Onkel Oskar waren in früheren Jahren Elitefahrer. Von seinen Eltern nie dazu gezwungen, verbrachte er lange Jahre damit, Radsport ausschliesslich als Hobby zu betreiben. "Ich habe mir oft überlegt, eine Lizenz zu lösen", erinnert sich Richner, doch stets kam etwas dazwischen. Erst war es die Autoprüfung, später die Lehrabschlussprüfung und schliesslich wollte er auch noch die Rekrutenschule vor seinem Debüt beenden. Dieses fiel fulminant aus: Bei seinem ersten Rennen wurde er 1995 auf Anhieb Aargauischer Bergmeister, fünf Tage vor seinem 21. Geburtstag. Im folgenden Jahr setzte der gelernte Schreiner seinen Höhenflug fort. In seinem zweiten Aktivjahr buchte er 29 Elite-Punkte und verpasste damit den Aufstieg in die höchste Amateurklasse um lediglich einen Punkt.
Auf diese Saison hin bewarb sich Richner beim Team Schaller. Doch als er von Bern eine Absage erhalten hatte, war er sich mit Ex-Profi Dany Hirs vom Kästle-Radio Argovia-Team bereits einig geworden. Seither arbeitet der neue Bergkönig vor allem an seinen Schwächen auf Rollerstrecken, denn seine Postur mit 57 kg bei einer Grösse von 1,75 m favorisiert ganz klar ansteigende Strassen. "Ich brauche noch mehr Muskeln", hat Richner richtig erkannt – und gibt sich noch eine Weile Zeit, um den Erfahrungsrückstand auf seine Gegner wettzumachen. Doch dann will er Profi werden. Für dieses Ziel will Richner alles in die Wege leiten. Bereits dieses Jahr hat er sein Arbeitspensum auf 80 Prozent reduziert, nächstes Jahr wird es noch weniger sein. Und diesen Entbehrungen müssen grosse Absichten entgegenstehen, meint Richner. Denn sonst, so meint der unbekümmerte Neo-Elitefahrer, würde er nicht soviel in seine Karriere investieren.
Pascal Meisser