Berufsstart
Nach dem Junioren-WM-Silbermedaille von 1997 hat sich für Nicole Brändli vieles geändert: die 19jährige Zürcherin fährt nun für eine italienische Mannschaft und konzentriert sich seit drei Monaten ausschliesslich aufs Radfahren.
Nicole Brändli wird seit längerer Zeit viel Talent beschieden. Die Silbermedaille, die sie 1997 an der Strassen-Weltmeisterschaft im spanischen San Sebastian gewonnen hatte, war aber nur ein Zwischenstopp auf dem vorausgeplanten Weg zur Spitze gewesen. Nun fährt sie seit anfangs Saison zusammen mit Andrea Hänni, Juniorenweltmeisterin von 1995, und Marion Brauen für eine italienische Mannschaft mit dem geschwungenen Namen "Acca Due O Lorena" – ein Team mit vielen internationalen Spitzenfahrerinnen. Da ist ihre Aufgabe natürlich vorgegeben: in erster Linie soll sie an Erfahrungen reicher werden, daneben aber auch als Helferin agieren. Dennoch hatte sich für sie bis Mitte des Jahres nicht viel geändert. Sie beendete in der Schweiz ihre Ausbildung und fuhr ab und zu Rennen in Italien, unter anderem auch den Giro d'Italia femminile. "Das war bisher mein grösstes Erlebnis", meint Nicole Brändli, die zuvor noch nie ein zweiwöchiges Etappenrennen bestritten hatte. Für eine vordere Plazierung reichte es natürlich nicht. Sie lernte aber, gegen Fieber und körperliche Krisen zu kämpfen. Und gegen Ende der Rundfahrt, "da ging's ja wieder ordentlich", sagte Brändli und wertet dies als positives Zeichen.
Gleichzeitig hat sie aber auch festgestellt, dass der Abstand zur Weltspitze noch beträchtlich gross ist. In fast allen Bereichen müsse sie noch zulegen, sagt sie, die vergangene Saison bei den Juniorinnen noch Sieg an Sieg gereiht hatte. Diese Zeit ist vorüber – und Brändli ist nicht unglücklich darüber. "Ich bin dieses Jahr wieder viel motivierter als 1997", so die 19jährige aus Horgen. "Damals startete ich zu den Rennen – und alles was von mir erwartet wurde, war ein Sieg. Alle anderen Plazierungen wurden mir als Niederlage ausgelegt." Deshalb freue sie sich heute über einen zweiten Platz wohl mehr als über die Siege im Vorjahr.
Dennoch wäre im August beinahe einen weiteren Eintrag in der Siegerliste von Nicole Brändli eine weitere Auszeichnung dazu gekommen. An der Europameisterschaft in Uppsala (Schweden) lag sie im Rennen der U23-Kategorie 300 Meter vor dem Ziel an sechster Position. Plötzlich fiel die neben ihr fahrende Konkurrentin um und provozierte einen Massensturz. Zwar erlitt Brändli glücklicherweise keine Verletzungen, aber es gab auch keine Medaille. Nervend sei dieser Zwischenfall gewesen, meinte die Zürcherin im nachhinein, denn für sie wäre ein Platz unter den ersten Zehn wichtig gewesen. Wichtig deshalb, weil sie seit Anfang Jahr von der Junioren-Klasse zur U23-Kategorie aufgestiegen ist, und bei den Frauen für diese Kategorie kein Weltmeisterschaftsrennen vorgesehen ist.
So setzt sich Brändli eben andere Ziele, zum Beispiel für die im holländischen Valkenburg stattfindenden Elite-Titelkämpfe. Doch ob sie überhaupt zu den sechs selektionierten Athletinnen gehört, war bei Redaktionsschluss noch offen. Zumindest hat sie dafür alles unternommen. Seit der Lehrabschlussprüfung im Juli hat Brändli ihre Arbeit aufgegeben und konzentriert sich jetzt auf den Radsport. Das hat sich auf die Trainingsweise ausgewirkt. Beschränkte sie sich zuvor vor allem auf intensive Trainings, sind mittlerweilen viel mehr ausdauernde Einheiten dazugekommen.
Und bereits kämpft sie mit dem stereotypen Vorurteil von Berufsathleten: "Viele denken: jetzt bist Du Profi, jetzt fährst Du bestimmt viel schneller." Was nach einer so kurzen Umstellungszeit ja kaum der Fall sein kann.
Pascal Meisser