VELOSZENE SCHWEIZ 09/98

Neues Leben

Wer Erfolge haben will, muss sein Wettkampfgewicht optimieren. Das dachte sich auch Nick Waldmeier. Doch aus dem Wahn, das Gewicht zu reduzieren, wurde Magersucht, statt der geplanten drei Kilos nahm er 16 ab. Im Gespräch mit VELO erklärt der Basler die Ursachen und Folgen dieser heimtückischen Krankheit

Der Traum war zum Greifen nahe gewesen, sehr nahe. Vor zwei Jahren wurde der Basler Nick Waldmeier Schweizermeister der U23-Klasse. Diesen Erfolg nutzte er zum Karrierenschwung: er wechselte vom Team Schaller zur professioneller scheinenden Tissot-Saeco-Equipe - der nächste Schritt hätte den heute 23jährigen wohl zu den Berufsfahrern geführt. Bloss wusste er damals noch nicht, dass er bereits auf dem absteigenden Ast war.

Weshalb auch? Die Erfolge waren da, die Leistungen liessen keine Zweifel an seiner Stärke aufkommen. Erst im Rückblick erkannte Waldmeier, dass er bereits an Magersucht litt. Schleichend hatte sich dieses Übel eingestellt, weder der Athlet noch sein Umfeld bemerkte etwas davon. Das Ganze nahm seinen Anfang, als ihm beim Übertritt zur U23-Kategorie vom damaligen Nationaltrainer Wolfram Lindner nahegelegt wurde abzunehmen. Zwei bis drei Kilos, soll der Ostdeutsche gesagt haben. Waldmeier nahm es zu genau. Er hat immer mehr auf Süssigkeiten verzichtet, ist allmählich zum Vegetarier geworden. "Als das Gewicht aus meiner Sicht optimal geworden war, sah ich aber keinen Grund, den begonnenen Prozess zu beenden", erklärt Waldmeier den Teufelskreis. Weiterhin überlegte er sich, was er essen soll, weiterhin rechnete er mit Zahlen und Kalorien.

Unmerklich wurde der Nachwuchsathlet immer schwächer, vom ursprünglichen Gewicht von 72 Kilo hat er sich auf 57 Kilo gehungert, der Körperfettanteil sank unter zwei Prozent. Obwohl "hungern" der falsche Ausdruck ist. "Ich habe nie an Hunger gelitten", sagt Waldmeier, denn durch die kontinuierliche Reduktion der Nahrungsaufnahme hat sich die Magengrösse angepasst, er ist immer kleiner geworden. Seiner Magersucht wurde Waldmeier erst 1997 bewusst, als er an einem Rennen in Schwarzhäusern bereits nach 200 Metern aus dem Feld gefallen war. "Du bist krank", schoss es ihm durch den Kopf - und allmählich wurde ihm klar, weshalb er in den vorhergehenden Monaten fast dauerverletzt gewesen war.

Dieses Jahr gab ihm Robert Thalmann in seinem Frank-Cilo-Team nochmals eine Chance. Doch als er im Trainingslager wegen einer x-ten Verletzung wieder pausieren musste. , gab Waldmeier in diesem Frühling seinen Rücktritt. Der Grund: das männliche Hormon Testosteron, unter anderem für die Bildung der Sehnen verantwortlich, hatte sich zurückgebildet und liess die existierenden Sehnen spröde und brechlich werden - eine fatale Begleiterscheinung, die ihn ständig begleitet hätte. Noch heute ist sein Körper nicht in der Lage, wieder eigenes Testosteron zu produzieren. Rund zwei Jahre noch muss Waldmeier deshalb eine hormonelle Behandlung durchlaufen. Wie lange es geht, bis der Basler den ganzen Prozess psychisch verarbeitet hat, weiss er heute noch nicht.

"Das Schlimmste nach dem Rücktritt", so Waldmeier, "war die Erkenntnis, dass mir ein soziales Netz ausserhalb des Radsports fehlte." Stets hatte er nur für den Radsport gelebt. Ging Samstag abends nicht aus, weil er sonntags Rennen bestreiten musste. Mit Freunden bei heissem Wetter ins Freibad zu gehen untersagte er sich, weil "herumliegen nur müde macht." Doch nun lagen viele Stunden, die er sonst dem Training gewidmet hätte, brach. Er musste sich neue Freizeitbeschäftigungen suchen. "Ich bin nach der Krankheit viel naturverbundener geworden", erkannte Waldmeier, dazu kam ein neues Hobby: "Ich male sehr gern." Und es scheint, als würde er bei den Gleichaltrigen seines Dorfs wieder Anschluss finden. Doch der Prozess der persönlichen Kontaktknüpfung kann langwierig sein. Vorderhand setzt er indes auf seine neuen beruflichen Perspektiven: er beginnt bald ein Architekturstudium an der HTL Muttenz. "Ich freue mich darauf", sagt er dazu.

Das Velo, einst im Zentrum stehend, existiert für ihn nur noch am Rand. "Ab und zu drehe ich einige Trainingsrunden, aber fern von jeglichen Ambitionen", präzisiert Waldmeier. Er hat verständlicherweise jegliche Lust auf Leistungsvergleiche verloren: "Früher bin ich immer mit Herzfrequenzmesser gefahren, heute höre ich auf meinen Körper." Denn Waldmeier weiss mittlerweilen: "Der extreme Ehrgeiz hatte mir im Radsport alles ermöglicht und mich immer wieder an die Spitze gebracht. Derselbe Ehrgeiz hat aber auch alles wieder zerstört."

Pascal Meisser

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