VELOSZENE SCHWEIZ 09/98

Fluchtwege

«3300 Kilometer Fluchtweg vor dem Tourismus»: Mit diesem Slogan promoten die Werber von Veloland Schweiz das «neue» nationale Radwegnetz euphorisch. VELO wollte wissen, ob sich die Investition von 14 Millionen Franken gelohnt hat und begab sich mit dem Tandem auf grosse Tour.

3300 Kilometer Radweg für 14 Millionen Franken: Ein günstiger Preis, vergleicht man mit den Tarifen, welche die Steuerzahler für den Bau der Autostrassen hinblättern müssen. Allerdings wurden für diesen Betrag keine neuen Radwege angelegt. Die Initianten von Schweiz Tourismus beschränkten sich darauf, bestehende Velowege frisch auszuschildern und neue Strecken auf bestehenden Strassen zu erschliessen. Herausgekommen ist ein Radwegnetz, dessen Kernstück neun numerierte Hauptrouten beinhaltet: Rhône-Route (1), Rhein-Route (2), Nord-Süd-Route (3), Alpenpanorama-Route (4), Mittelland-Route (5), Graubünden-Route (6), Jura-Route (7), Aare-Route (8) und Seen-Route (9).

Dazu liess die Trägerschaft der Stiftung «Veloland Schweiz» einen offiziellen Reiseführer in drei Bänden verfassen. Darin wird nicht nur Auskunft über den Weg, die Beschaffenheit der Strasse und die Topographie gegeben. Pro Führer wird auf 45 verschiedenen Planquadraten im Massstab 1:100000 mit informativen Kurztexten auf die Sehenswürdigkeiten im jeweiligen Gebiet hingewiesen. Eine Karte im etwas grossen Massstab 1:500'000, auf der sämtliche neun Routen eingetragen sind, rundet das Angebot ums Veloland Schweiz ab. Gratis gibt's die 160seitigen Führer freilich nicht: Pro Buch im A5-Format sind 37.80 Franken zu berappen, die Karte kostet 19.80 Franken. Die Investitionen sind jedoch lohnend in Anbetracht der übersichtlich und attraktiv aufgemachten Informationen.

Mit meiner Lebenspartnerin und Tochter testete ich fünf der neun Routen während einer neuntägigen Radtour. Als Fahrzeug diente ein Tandem mit einem Trailer für das Kind im Vorschulalter. Im Vordergrund stand also nicht «Kilometerfressen», sondern der Genuss. Uns interessierte die Zweckmässigkeit der neugeschaffenen Infrastruktur und die Genauigkeit der Informationen von Veloland Schweiz. Zurückgelegt wurden insgesamt 520 Kilometer, aufgeteilt in Tagesetappen zwischen 50 und 75 Kilometer.

Von Zug führte uns die Velotour über die Seen-Route Nummer 9 Richtung Innerschweiz durch Luzern nach Sarnen. Über den Brünigpass nahmen wir den Zug und testeten dabei den Service der Schweizerischen Bundesbahnen, SBB. Anschlissend ging's weiter auf der Aare-Route Richtung Brienz nach Interlaken. Dort entschlossen wir uns bis nach Thun die Strasse entlang des rechten Seeufers zu nehmen, die sich anbot, da wir die Beatushöhlen besuchten. Nach Bern machten wir, abseits der offiziellen Routen, einen Abstecher an den Murtensee, ehe wir die Fahrt auf der Mittelland-Route Nummer 5 nach Biel, Solothurn und Aarau fortsetzten. Die Nord-Süd-Route Nummer 3 brachte uns schliesslich wieder nach Luzern, wo wir nach dem Besuch des Schweizerischen Landesmuseums den Heimweg via Seen-Route antraten. Eine kleine Tour de Suisse gewissermassen.

Die Beschilderung mit den auffälligen roten Tafeln und den gut sichtbarer Routennummer war in der Regel gut. Der Reiseführer musste nur in Ausnahmefällen konsultiert werden — zumindest in der Deutschschweiz. Je weiter wir von Bern in die Westschweiz vorstiessen, desto nonchalanter wurde die Beschilderung jedoch. Der Reiseführer musste mehrmals als wichtige Orientierungshilfe dienen. Mühsam wurde es insbesondere, wenn Radwegweiser aus früheren Zeiten und diejenigen des Schweizerischen Rad- und Motorfahrerbundes (SRB) mehr verwirrend denn klärend bei Kreuzungen standen. So entpuppte sich beispielsweise der (Rad-)Weg von Bern an der Murtensee als eigentliches Labyrinth. Verfügt der radfahrende Mensch in diesem Gebiet nicht über gute Ortskenntnisse oder einen ausgeprägten Orientierungssinn, sind vor allem starke Beine gefragt. Auf der Autobahn misst die Strecke vielleicht 25 -meist leicht abschüssige — Kilometer. Unser Tacho zeigte manchmal die doppelte Zahl an, entsprechend leer waren die Beine. Denn die Gegend um den Murtensee präsentiert sich sehr coupiert mit kurzen, teilweise ruppigen Anstiegen.

Nicht sehr durchdacht sind auch die Brücken und Autobahnübergänge in der Gegend des Berner Wohlen- und Bielersees. Die engen Radien bei den Zufahrten machen ein Durchkommen mit Veloanhänger unmöglich und bereiten auch mit dem Tandem Mühe. Eine ähnlich schwierige Passage verhinderte beim Wichelsee in Sarnen ein Weiterfahren. Was soll man als Tandemfahrer tun, wenn man schon mit dem herkömmlichen Zweirad kaum durch die engen Geländer fahren kann?

Abgesehen von diesen Hindernissen, die leider nicht auf den Velokarten eingezeichnet sind, gebührt den Machern von Veloland Schweiz ein Lob. Die Streckenführung der numerierten Hauptrouten darf als gelungen bezeichnet werden - auch wenn man oft nicht direkt entlang der Gewässer gefahren werden darf. Denn diese Wege sind in der Regel den Fussgängern und Wanderern vorbehalten. Die Beschaffenheit der Radwege ist durchwegs so gut, dass man sie problemlos auch mit den Rennrad befahren kann. Es empfiehlt sich jedoch, nicht die leichtesten Collés oder Pneus aufzuziehen. Wir hatten auf dem Tandem normale Strassenbereifung montiert und sind trotz des Anteils von etwa 20 Prozent ungeteerter Strassen von Reifenpannen verschont geblieben. Die streckenweise recht engen Wege und Brücken erforderten jedoch eine gewisse Aufmerksamkeit beim Kreuzen und Überholen. Und wenn die Strassen breiter werden, ist immer mal wieder mit motorisiertem Verkehr aller Art zu rechnen.

In den Bergab-Passagen gehörte die ganze Aufmerksamkeit den Wegweisern. Unglücklicherweise sind sie meist erst beim Abzweiger selbst plaziert, womöglich von der üppig wachsenden Vegetation verdeckt. Uns ist es mehr als einmal passiert, dass wir schlicht zu schnell waren, um noch sicher abbiegen zu können. Anhalten und Zurückfahren war angesagt.

Als knapp genügend muss der Service der Bahn beim Velotransport bezeichnet werden. Obwohl die SBB ein Mitglied der Stiftung «Veloland Schweiz», findet offenbar keine direkte Zusammenarbeit statt. Noch immer ist für den Velotransport mit der Bahn ein Einheitstarif — ähnlich dem Porto eines Briefes — zu entrichten. Man bezahlt stets 15 Franken (Halbtax 10 Franken), egal ob das Fahrrad 10 oder 300 Kilometer transportieren werden soll. Gerade für kinderreiche Familien ein teurer Spass. Fürs Ver- und Entladen auf den Zug ist der Velofahrer selber zuständig, was in unserem Fall für einigen Stress sorgte. Der Zug hielt in Giswil für den Verlad über den Brünig nur wenige Minuten. Glücklicherweise konnte sich ein Zugbegleiter zur Hilfe überwinden. Alleine ein mit Packtaschen 40 Kilo schweres Tandem auf den Zug zu hieven wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen.

Äusserst vielseitig ist das Angebot der Übernachtungsmöglichkeiten an den verschiedenen Routen. Dennoch gab es markante Unterschiede im Verhältnis zwischen Preis und Leistung. Durchwegs am besten schnitten die Jugendherbergen ab, die wir in Bern, Solothurn und Luzern testeten. Die Zeiten der kratzigen Wolldecken und Massenlager sind längst vorbei. In den Jugendherbergen lassen sich mittlerweile Einzel-, Doppel-, Dreier-, Vierer- und Achterzimmer buchen. Teilweise sogar mit Dusche und WC auf dem Zimmer. Zudem sind diese Unterkünfte meist an bester Lage; in Bern beispielsweise direkt unter dem Bundeshaus, in Solothurn mitten in der Stadt mit sehr mondänem Innenausbau. Jugendherbergen haben weitere Vorteile: Sie verfügen über eine gute und günstige Infrastruktur mit Waschmaschine, Veloraum und Spielmöglichkeiten (Billard, Flipperkästen, Tischtennis usw.); man trifft Leute aus vielen Nationen und Gleichgesinnte, die ebenfalls mit dem Rad unterwegs sind zum Meinungsaustausch. Dazu werden an den meisten Orten Preisermässigungen zu den Sehenswürdigkeiten offeriert. Eine Übernachtung kostet ohne Mitgliederausweis rund 25 Franken pro Person, für das Frühstück zahlt man sechs Franken extra. Das Bett muss man allerdings selber beziehen, kann dafür aber den Schlafsack zu Hause lassen.

Daneben gibt es an den Radrouten eine ganze Reihe weiterer Gaststätten und Hotels verschiedenster Stern- und Preisklassen. Sehr angenehm überrascht waren wir zum Beispiel vom Seehotel Wilerbad in Wilen am Sarnersee, wo wir am Abend nach der ersten Etappe ziemlich gerädert abgestiegen sind. Das neue Viersternhotel an der Seen-Route bot alles, was unser Herz begehrte: ein grosses Zimmer mit Seeblick, Sauna und ein reichhaltiges Morgenbuffet zum Preis von 85 Franken pro Erwachsener. Für Kinder im gleichen Zimmer werden pro Altersjahr noch einen Franken (!) verrechnet.

Gut war auch die Nacht in Lostorf (in der Nähe von Aarau) bei Familie Allemann, die eine Zimmer- und Bungalow-Vermietung unterhält: 115 Franken für die ganze Familie inklusive üppigem Frühstück. Auf diese Adresse sind wir im Reiseführer gestossen, der auch bezüglich Übernachtungsmöglichkeiten gute Informationen lieferte.

Nicht im Guide aufgeführt war das Dreistern-Hotel Schiff in Murten, das mit dem Hinweisschlild «Velotel» an der Fassade lockte. Es bot das schlechteste Preis-Leistungsverhältnis während unserer neuntägigen Reise. Für horrende 245 Franken pro Nacht ein kleines Doppelzimmer mit durchgelegenen Einzelbetten und einem defekten Notbett, die für wenig erholsamen Schlaf sorgten. Auch das Buffet am Morgen vermochte uns nicht zu überzeugen. Und für das Fahrrad musste im gegenüberliegenden Gebäude notbehelfmässig neben Altglascontainern ein Platz freigeräumt werden.

Trotzdem steht fest: Das war nicht das letzte Mal, dass wir mit dem muskelangetriebenen Zweirad in der Schweiz herumreisen — auch wenn Individualferien mit dem Velo nicht zu den günstigsten Erholungsmöglichkeiten zählen. Aktivferien mit dem Fahrrad gehören dafür zum Intensivsten, was man heute noch erleben kann. Und die Stiftung Veloland Schweiz leistet mit ihrer Arbeit einen sinnvollen Beitrag dazu - sofern man sich an die Tips und Adressen des Führers wendet.

Martin Platter

Zusatzinformationen

Veloland Schweiz hat nicht nur umfassende Reiseführer und Strassenkarten herausgegeben. Auf zahlreichen Homapages lassen sich Informationen zum Reiseland Schweiz bequem herunterladen. Die wichtigsten Internet-Adressen zu zentralen Buchungs- und Informationsstellen:

- www.schweizferien.ch (Die Homepage von Schweiz Tourismus) oder Telefon 01 288 11 11
- www.reisemarkt.ch (Anbieter von Reisearrangementen)
- www.swisshotels.ch (Schweizer Hotelführer)
- www.rooms.ch (Hotelführer des Labels E&G (einfach und gemütlich)
- www.campingtcs.ch (Verzeichnis der Schweizer Campingplätze)
- www.youthhostel.ch (Witziges Verzeichnis der Jugendherbergen)
- www.bbswitzerland.ch (Bed and Breakfast in der Schweiz)
- www.reka.ch/d/bauernhof.htm (Ferien auf dem Bauernhof)

Nützliche Telefonnummern:
- 021 619 44 00 oder cottier@srwa.agri.ch (Verezichnis der Bauernhöfe, die «Schlafen im Stroh» anbieten)
- 031 301 60 88 oder naturfreunde.schweiz@smile.ch (Naturfreunde-Häuser)

Der offizielle Reiseführer zu Veloland Schweiz wurde im Zürcher Werd-Verlag herausgegeben und ist im Buchhandel und weiteren Verkaufsstellen erhältlich.
Band 1 mit den Routen 1 bis 3: ISBN 3-85932-243-5
Band 2 mit den Routen 4 bis 6: ISBN 3-85932-244-3
Band 3 mit den Routen 7 bis 9: ISBN 3-85932-245-1

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